Der aktuelle Entwurf des Bundesteilhabegesetzes bereitet uns Kopfschmerzen
Sehr geehrte politische Vertreterinnen und Vertreter des Kreises Groß-Gerau,
wir brauchen Ihre Unterstützung.
Eine halbe Million Menschen mit geistiger Behinderung beziehen in Deutschland Leistungen der Eingliederungshilfe. Sie sind unmittelbar betroffen von den im Juni von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzesentwürfen zum Bundesteilhabegesetz und zum Pflegestärkungsgesetz III, die im Herbst von Bundestag und Bundesrat beraten werden.
Die vorgelegten Gesetzesentwürfe versprechen mehr Selbstbestimmung und Teilhabe für Menschen mit Behinderung. Für Menschen mit einer geistigen oder seelischen Behinderung halten sie diese Versprechen jedoch nicht! Für sie drohen durch diese Gesetze Diskriminierung und Ausgrenzung. Dies betrifft auch die über 1.000 Menschen mit geistiger oder seelischer Behinderung im Landkreis Groß-Gerau, die die Lebenshilfe Groß-Gerau e.V. sowie die WfB Rhein-Main e.V. in ihren Diensten und Einrichtungen auf vielfältige Weise unterstützen. Durch unsere Arbeit sitzen wir direkt an der Quelle und kennen daher die Bedürfnisse und Sorge dieser Menschen. Auch deshalb können wir den Gesetzesentwurf in dieser Form nicht akzeptieren!
Menschen mit geistiger oder seelischer Behinderung haben aufgrund ihrer Beeinträchtigung in der Regel kein oder nur ein geringes Einkommen, weshalb viele der prominenten Regelungen des Bundesteilhabegesetzes für sie keine Rolle spielen. Sie sind vielmehr auf funktionierende Unterstützungsdienste und Einrichtungen angewiesen und brauchen häufig sowohl Eingliederungshilfe als auch Leistungen der Pflegeversicherung.
Die Lebenshilfe mit ihren über 500 örtlichen Vereinigungen hat daher eine bundesweite Protest- und Aufklärungskampagne gestartet und ruft dazu auf, ihre Petition gegen die Gesetzesentwürfe zu unterzeichnen. Gemeinsam mit uns sind bereits mehr als 60.000 Menschen diesem Aufruf bereits gefolgt. Das Motto lautet #TeilhabeStattAusgrenzung (www.teilhabestattausgrenzung.de).
Bitte setzen Sie sich im parlamentarischen Verfahren dafür ein, dass …
- … Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf künftig nicht von den Leistungen der Pflegeversicherung ausgeschlossen werden. Umgekehrt darf ihnen auch nicht die Eingliederungshilfe verwehrt werden, weil sie neben ihrer geistigen Behinderung einen Pflegebedarf haben. Sie brauchen für Teilhabe beide Formen der Unterstützung. Der Verschiebebahnhof zwischen Eingliederungshilfe und Pflege muss aufhören!
Damit die Menschen weiterhin alle erforderlichen Leistungen erhalten, dürfen weder die geplanten Neuregelungen zum Verhältnis zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung bzw. Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege noch die Ausweitung des § 43a SGB XI auf bestimmte ambulante Wohngemeinschaften verabschiedet werden.
- … der Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe nicht so begrenzt wird, dass Menschen, die in weniger als fünf Lebensbereichen Einschränkungen aufweisen, von den Leistungen ausgeschlossen werden. Eine solche Hürde ist zu hoch!
Um eine Einschränkung des Personenkreises auszuschließen, sind eine wissenschaftlich fundierte Grundlage und eine anschließende Erprobung in der Praxis nötig. Dies braucht Zeit. Erst nach Auswertung dessen kann über eine neue gesetzliche Definition entschieden werden – in einem separaten Gesetzgebungsverfahren. Bitte machen Sie nicht den zweiten Schritt vor dem Ersten!
- … Menschen mit Behinderung nicht gezwungen werden können, gemeinsam mit anderen Leistungen in Anspruch zu nehmen, z. B. beim Wohnen und in der Freizeit. Das ist das Gegenteil von Selbstbestimmung und führt zu Ausgrenzung statt Teilhabe!
Der in der Gesetzesbegründung enthaltene Hinweis, dass die bisherige Leistungsgewährung im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden solle, kann ein „Zwangspoolen“ nicht verhindern. Es fehlt bereits die verbindliche Verankerung im Gesetzestext selbst. Ohnehin könnten hiervon nur Menschen mit Behinderung profitieren, die bereits Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen. Für zukünftige Generationen von Menschen mit Behinderung wäre sie dagegen ebenso bedeutungslos wie in Fällen, in denen sich der Bedarf ändert. Der Hinweis würde daher auf Dauer ins Leere laufen und führt nicht zu einer zukunftssicheren Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts von Menschen mit Behinderung.
- … die Kosten der Unterkunft für das Wohnen in Wohnstätten nicht willkürlich begrenzt werden. Wenn das Wirklichkeit wird, droht vielen Wohnstätten für Menschen mit geistiger Behinderung das finanzielle Aus, und die dort lebenden Menschen verlieren ihr Zuhause!
Wohneinrichtungen unterliegen im Gegensatz zu Mietwohnungen zahlreichen kostenintensiven, insbesondere ordnungsrechtlichen Vorgaben (z. B. Brandschutz). Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass mit der geplanten Regelung eine Refinanzierung der tatsächlichen, auch bisher vom Sozialhilfeträger übernommenen Kosten möglich sein wird.
- … Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht von den verbesserten Regelungen des Bundesteilhabegesetzes zur Heranziehung ihres Vermögens ausgeschlossen werden. Auch sie haben ein Recht auf ein Sparbuch!
Insbesondere Menschen mit einer geistigen oder seelischen Behinderung sind aufgrund ihrer Behinderung häufig auf existenzsichernde Leistungen wie Grundsicherung nach dem SGB XII angewiesen. Für sie wird weiterhin eine Vermögensfreigrenze von nur 2.600 Euro gelten. Eine Anhebung dieser Grenze ist aber auch für sie dringend geboten, um ihnen einen angemesseneren finanziellen Spielraum zu ermöglichen.
Wir brauchen Ihre Unterstützung für Teilhabe statt Ausgrenzung.
Die neuen Gesetze müssen das Leben von allen Menschen mit Behinderung verbessern – und nicht verschlechtern! Bitte setzen Sie sich mit uns gemeinsam für ein besseres Bundesteilhabegesetz und für ein besseres Pflegestärkungsgesetz III ein.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung.
Hochachtungsvoll, Ihre
Kathi Schmidt 1. Vorsitzende Lebenshilfe Groß-Gerau |
Cassius Hillmann Vorstand WfB Rhein-Main e.V. |
Jürgen Stötzer Vorstand WfB Rhein-Main e.V. |